Pacing bei ME/CFS

Ein Balanceakt zwischen Leben und Leiden

1/7/20253 min read

Hallo ihr Lieben,

ich möchte heute über ein Thema sprechen, das mich seit Beginn meiner Erkrankung begleitet: die Belastungsintoleranz und die Strategie des "Pacings". Wenn man ME/CFS hat, wird einem schnell klar, dass gängige Aktivierungstherapien nicht nur wenig hilfreich, sondern sogar extrem kontraproduktiv sein können. Ein entscheidender Punkt, der oft übersehen wird, ist das Phänomen der post-exertional malaise (PEM), also der belastungsabhängigen Symptomverschlechterung.

Was ist PEM?

PEM beschreibt die Tatsache, dass selbst leichte Alltagsanstrengungen – sei es körperlich, geistig, emotional oder sensorisch – zu einer erheblichen Verschlechterung des Zustands führen können. Das Besondere daran ist, dass diese Verschlechterung oft zeitverzögert auftritt. Manchmal dauert es Stunden oder bis zum Folgetag, bis die Symptome schlimmer werden, und diese Verschlechterung kann Tage, Wochen oder sogar länger anhalten. Genauere Infos dazu findet ihr auf der Homepage unter dem „Folder ME/CFS“.

Bei mir genügten manchmal schon kleine Dinge: selbstständig aufrichten, eine Diskussion oder das Anhören eines Textes. Die Konsequenz? Ich war für Tage wie gelähmt. Ziel ist es also, diese sogenannten "Crashs" zu vermeiden oder zumindest zu verringern. Hier kommt somit das „Pacing“ ins Spiel.

Eine echte Herausforderungen

Pacing bedeutet, die eigenen Belastungsgrenzen genau einzuhalten. Es klingt so einfach, ist aber in der Praxis unglaublich schwer und hat mich immer wieder an den Rand des Wahnsinns geführt. Alle raten einem: "Plane deinen Tag und deine Woche voraus." Aber wie soll das gehen, wenn ich nicht einmal weiß, wie ich mich in der nächsten Stunde fühlen werde? Ich kann meine Nahrung planen, meinen Puls tracken, und trotzdem kommt es vor, dass etwas, das an einem Tag problemlos funktioniert, an einem anderen Tag zu einem Zusammenbruch führt.

Die psychische Belastung von Pacing

Was mir am meisten zusetzte, war die Frage: Was bedeutet Pacing für meine "guten" Tage? Soll ich an den wenigen Tagen, an denen ich mich "stark" genug fühle, einfach im Bett liegen und mich schonen? Anstatt die Chance zu nutzen, endlich ein bisschen zu „leben“, so zu tun, als wäre ich wieder die alte Version meiner selbst, die nichts in die Knie zwingen kann?

Die Vorstellung, an einem "guten" Tag nur zu ruhen, war für mich schwer zu ertragen. Wie soll ich das mit meiner Psyche vereinbaren? Was, wenn dieser gute Tag der einzige für Wochen ist? Die Vorstellung, ihn "ungenutzt" verstreichen zu lassen, war furchtbar. Aber gleichzeitig wusste ich, dass das Risiko, durch zu viel Aktivierung in einen Crash zu geraten, real ist.

Balance finden

Pacing ist ein ständiger Balanceakt. Ich versuchte, meine Belastung so zu steuern, dass ich langfristig stabiler bleibe, aber ich wollte auch die seltenen „guten“ Tage nutzen. Es war/ist ein ständiges Abwägen zwischen Vorsicht und Lebensfreude. Manchmal treffe ich die falsche Entscheidung, und bezahle den Preis dafür. Aber genau jene Tage sind es, die meine Psyche stabil halten und mich ein bisschen am Leben teilhaben lassen.

Pacing heißt nicht, nichts tun!

Pacing heißt nicht, dass man keine Aktivierungen machen sollte. Das wird von vielen häufig falsch verstanden. Pacing bedeutet also nicht, dass man gar nichts tut. Es geht vielmehr darum, innerhalb der eigenen Belastungsgrenzen zu bleiben und dabei gezielt die Toleranz für Aktivitäten auszuweiten. Es ist ein schrittweiser Prozess, der Geduld und Selbstbeobachtung erfordert, aber langfristig helfen kann, die Stabilität zu erhöhen und die Zahl der Crashs zu reduzieren. Ich selbst habe über Wochen lediglich leichte Bewegungen der Zehen und Finger geschafft und habe mich langsam an einen Zustand herangetastet, in dem ich nun ohne Rollstuhl leben kann. Dies hat sehr viel Zeit und Disziplin erfordert, in der ich auch manchmal über das Zeil hinausgeschossen bin. Aber schlussendlich hat sich die Beharrlichkeit und die vielen kleinen Schritte ausgezahlt.

Pacing ist also mehr als nur eine Strategie – es ist eine Lebensweise, die viel Geduld, Disziplin und Selbstmitgefühl erfordert. Es ist keine perfekte Lösung, aber es half/hilft mir, meine Energie besser einzuteilen und die Zahl der Crashs zu reduzieren. Gleichzeitig bleibt es noch immer eine große Herausforderung, vor allem emotional.

Alles Liebe,

Tina

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